G. Katschnig: Geschichte der Kulturwissenschaft

Cover
Titel
Geschichte der Kulturwissenschaft. Vom Gilgamesch-Epos bis zur Kulturpoetik


Autor(en)
Katschnig, Gerhard
Erschienen
Tübingen 2023: UTB
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Jordan, Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München

Mittlerweile können Studierende an einer ganzen Reihe von Universitäten im deutschsprachigen Raum einen Studiengang Kulturwissenschaft(en) oder Empirische beziehungsweise Angewandte Kulturwissenschaft(en) belegen. Zu den Hochschulen mit diesem Angebot zählt auch die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (dort unter dem Titel „Angewandte Kulturwissenschaft“), an deren Institut für Kulturanalyse der Autor des vorliegenden Bands, Gerhard Katschnig, als Lehrbeauftragter tätig ist. Für den Studiengang Kulturwissenschaft wurden – wie für fast alle Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses – in den letzten rund zwei Jahrzehnten mehrere praktische Einführungen verfasst, die um die Gunst der Lehrenden und Studierenden konkurrieren.

Die älteren Einführungen dieses Fachs folgen unterschiedlichen Ansätzen: So orientiert sich etwa die Struktur der Bände von Harun Maye und Leander Scholz oder von Aleida Assmann an Grundbegriffen und zentralen Themen der Disziplin.1 Stärker an der wissenschaftlichen und fachlichen Entstehung der Kulturwissenschaft und ihrer Institutionen ausgerichtet ist die „Orientierung Kulturwissenschaft“ Hartmut Böhmes und anderer.2 Im Zentrum der Einführungen Klaus P. Hansens und Markus Fausers wiederum stehen Theorien der Kulturwissenschaft, anhand derer das Fach in seiner Breite vorgestellt wird.3

Gegenüber solchen Bänden versucht Katschnig, sein Werk durch einen anderen Zugang zu positionieren. Während die übrigen Einführungen zeitlich meist mit der Etablierung kulturwissenschaftlicher Fächer im Verwissenschaftlichungs- und Verfachlichungsprozess seit der Sattelzeit einsetzen, greift Katschnig zum einen weiter aus: „Das Potenzial zur Originalität des folgenden Versuches liegt darin, dass die Kulturwissenschaft [...] in ihrer historischen Genese aus antiker Philosophie wie den späteren Geisteswissenschaften aufgegriffen und als transdisziplinäres Forschungsfeld behandelt wird.“ (S. 13) Zum anderen und daraus folgend steht in seinem Band weniger die historische Betrachtung einer Disziplin im Zentrum der Darstellung als vielmehr die geschichtliche Perspektive auf den Gegenstand, um den es in dieser Disziplin geht: die Kultur. Im Hinblick auf das potenzielle Lesepublikum begreift Katschnig sein Lehrbuch zugleich als „Orientierungshilfe“ für „Studierende“ wie auch als „Reflexionsangebot“ für „Kultur- und Geisteswissenschaftler“ (S. 14).

Der Band ist chronologisch strukturiert. Auf eine Einleitung, die im Wesentlichen eine Vorschau der folgenden Kapitel gibt, folgen Ausführungen über das Kulturverständnis früher Mythen (I), „Glaube und Wissen“ in frühem Christentum und Mittelalter (II), das Kulturverständnis des Renaissance-Humanismus (III), die Entwicklung „modernen“ wissenschaftlichen Denkens in der Frühen Neuzeit (IV), das Verhältnis von Kultur und der Entwicklung historischen Denkens (V), die Kulturkritik der Aufklärung (VI), die Kulturphilosophie des 19. Jahrhunderts (VII), der Kulturpessimismus um 1900 (VIII) und die „Internationalisierung“ der Kulturwissenschaft (IX), bevor ein „Ausblick – Kulturwissenschaft heute“ die mit einigen Abbildungen versehene Darstellung beschließt. Ergänzend finden sich ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister. Die ersten sieben Kapitel des Werks wurden bereits zwischen 2015 und 2017 in der (dann eingestellten) Zeitschrift „Kultursoziologie“ veröffentlicht und für die Buchausgabe überarbeitet.

Da der Band stärker auf Kultur als auf Kulturwissenschaft abhebt, ist Katschnigs eigenes Verständnis von Kultur für den Gang der Darstellung wegweisend: „Kultur ist jene ebenso grundlegende wie umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und seine Welt als solche erfahrbar macht.“ (S. 9) In diesem Sinne sieht der Autor seinen Gegenstand durch drei Charakteristika definiert: „Wenn Sprache neben Religion für die kulturelle Entwicklung des Menschen maßgeblich wird, setzt die Schrift den abschließenden Schritt für unser Verständnis früher Kulturen.“ (S. 27) Dieser Konzentration auf Schrift, die mit Blick auf früheste Manifestationen von Kultur getroffen wird, bleibt der Autor in seinen gesamten Ausführungen treu, was dazu führt, dass Formen von Kultur als Ritual, als sozialem Handeln, als Herstellung von dinglichen Gegenständen oder als Alltag eine eher marginale Rolle zukommt.

Es sind vielmehr geistesgeschichtliche Leuchttürme, denen Katschnigs Interesse gilt und die er als Faktoren für den Wirkungszusammenhang zwischen Kultur, Natur und Gesellschaft ausweist. So thematisiert er das Kulturverständnis antiker Geistesgrößen wie Platon, Herodot, Cicero und Vergil, das beim Zerfall des römischen Weltreichs verloren gegangen und von Renaissancephilosophen und -historikern wie Dante, Vasari und Pico della Mirandola wiederentdeckt worden sei. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dem Kulturverständnis Vicos, weil dieses zu der Einsicht geführt habe, dass Kultur etwas sei, was der Mensch verstehe, weil er es selbst geschaffen habe (S. 104). Mit Blick auf die Konkurrenz zu den aufblühenden Naturwissenschaften (Copernicus, Galilei) und den epistemologischen Neuerungen etwa eines Descartes und Hobbes kommt Katschnig auf die Kulturphilosophie der Aufklärungszeit zu sprechen, die er an Voltaire, Herder, Rousseau und Schiller exemplifiziert, um sie dann für das 19. Jahrhundert an Darwin, Windelband und Rickert, schließlich an Max Weber und Cassirer fortzuführen. Für die „Internationalisierung“ der institutionalisierten Kulturwissenschaft richtet er seinen Blick auf ethnologische Positionen (Geertz), Ansätze von Mentalitätsgeschichte (Febvre, Bloch) und die Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer). Den Abschluss bilden Ausführungen zur Kulturpoetik Stephen Greenblatts und zum Schwellenraumkonzept Homi Bhabhas.

Im Kern geht es also um Kulturphilosophie beziehungsweise um Höhepunkte einer Geistesgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Eingestreut sind Betrachtungen, deren Sinn sich bei der Lektüre nicht erschließt. So findet sich etwa ein längerer Abschnitt über „Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900“, in dem unter anderem der wenig bekannte Journalist Max Winter näher vorgestellt wird. Auch die Ausführungen über Lorca, Adorno und Horkheimer im Zuge von „Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus“, über österreichische Politik nach 1945 und über Thomas Bernhards Skandalstück „Heldenplatz“ (1988) wirken merkwürdig deplatziert und für den Gang der Argumentation nicht zielführend. Möglicherweise sollen sie das Fehlen von Alltagskultur kompensieren; ihr räumt Katschnig zwar eine Relevanz für die „Erweiterung“ eines Verständnisses von Kultur im 20. Jahrhundert ein, das nun auch „Einkaufszentren“, „Urlaubsgewohnheiten“ oder „eine Liedtextzeile von Bob Dylan“ umfasse, was aber nicht weiter ausgeführt wird.

Katschnigs Band unterscheidet sich mit seinem Zugriff deutlich von den oben erwähnten Einführungen in die Kulturwissenschaft und ist aus diesem Grund eben nicht als „Einführung“ betitelt, sondern als „Geschichte der Kulturwissenschaft“. Treffender aber wäre die Bezeichnung „Geschichte der Kultur“ gewesen, denn fast ausschließlich darum geht es dem Autor. Aktuelle Ansätze einer Theorie der Kulturwissenschaft bleiben unbehandelt, sodass es fraglich ist, ob der Band tatsächlich als „Reflexionsangebot“ für Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dienen kann, zumal viele der dargestellten geistesgeschichtlichen Inhalte ihnen vermutlich bestens vertraut sind. Auch die Leistung des Werks als „Orientierungshilfe“ für Studierende dürfte begrenzt sein; für diese Zielgruppe besonders interessante Aspekte wie Felder, Themen und Institutionen kulturwissenschaftlicher Arbeit kommen leider nicht vor.

Anmerkungen:
1 Harun Maye / Leander Scholz (Hrsg.), Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011; Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, 4., durchgesehene Aufl., Berlin 2017 (1. Aufl. 2006).
2 Hartmut Böhme / Peter Matussek / Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, 3. Aufl., Reinbek 2007 (1. Aufl. 2000).
3 Klaus P. Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft, 4., vollständig überarb. Aufl., Tübingen 2011 (1. Aufl. 1995); Markus Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft, 5. Aufl., Darmstadt 2011 (1. Aufl. 2003).